NEWS - Erdogan schreibt an die Deutschen

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Maiycel

NEWS - Erdogan schreibt an die Deutschen

Beitrag von Maiycel »

Erdogan schreibt an die Deutschen


mein Land und Europa sind an einem historischen Punkt angelangt. Es sind nur noch wenige Stunden bis zum für die Türkei und die Europäische Union so wichtigen Gipfel. Die Argumente sind ausgetauscht – jetzt zählt nur noch das Ergebnis.
Noch vor kurzem hat mein Volk im Rahmen der NATO für die Prinzipien von Freiheit und Demokratie seine Kinder Schulter an Schulter mit den Kindern Europas sogar in Kriege geschickt. Künftig will es – weil wir für dieselben Demokratie- und Freiheitswerte einstehen – auch mit seinen europäischen Freunden unter einem Dach zusammenleben.

Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei waren noch nie von kurzfristigen Entwicklungen abhängig. Es gab immer eine klare, grundsätzliche Übereinstimmung darüber, auf welchem Weg die Türkei die Mitgliedschaft in der EU erreichen kann.

Wie die Gemeinschaft, die von einer Kohle-Stahl-Union erst zu einer wirtschaftlichen, dann zur heutigen politischen Union fand, hatte man auch für die Türkei einen ähnlichen Prozeß mit verschiedenen Stufen auf dem Weg zur Mitgliedschaft vorgesehen.

Die Entscheidungen, die 1999 in Helsinki und 2002 in Kopenhagen gefällt und bei späteren Gipfeln bestätigt wurden, sind daher keine Zufälle. Sie sind das natürliche Ergebnis eines Prozesses, der 1963 mit dem Ankara-Abkommen – und das möchte ich unterstreichen – mit dem Willen beider Seiten begonnen wurde.

Ich weiß, daß einige denken, die Europäische Union habe sich seit 1963 so geändert, daß sich auch die Beziehungen zur Türkei geändert haben – und daher Alternativen zu einer Mitgliedschaft der Türkei entwickelt werden sollten.

Ich glaube aber von ganzem Herzen, daß die gemeinsamen Interessen von Türkei und EU heute sogar noch stärker, noch verflochtener und vielfältiger sind, als dies 1963 der Fall war. Auch unsere grundsätzlichen Werte haben sich nicht geändert und die Menschheit ist immer noch den Idealen wie Frieden, Wohlstand und Freiheit verpflichtet.

Die Europäische Union ist dem Prinzip „Einheit in Vielfalt“ verpflichtet. Ich halte es nicht nur für inkonsequent, sondern auch für sehr gefährlich, wenn man versucht, dieses Prinzip in der EU zu verwirklichen und gleichzeitig die Türkei gerade wegen ihrer unterschiedlichen Kultur und Religion anzuprangern.

Die Betonung der „Unterschiede“ kann nur dazu dienen, daß sich „unterschiedliche Fronten“ bilden und dem Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen keine Chance gegeben wird.

Wenn die EU ihre „Identität“ auf das Christentum beschränken würde – was ich für falsch hielte – was würden dann die Millionen Menschen in der Europäischen Union denken, die nicht Christen sind? Ich glaube, daß ein solches Verhalten der Integration abträglich wäre oder sogar das Gegenteil bewirken könnte. Die EU sollte weniger auf die Gegenwart, sondern mehr auf die mittel- und langfristige Zukunft blicken.

Die Türkei befindet sich im Zentrum von Eurasien. Sie hat Einfluß und enge historische Verbindungen zum Balkan, Kaukasien, dem Schwarzen Meer, Zentralasien und dem Nahen Osten.

Wenn die EU eine Kraft sein will, die in der Welt eine wichtige Rolle spielt, dann führt dieser Weg über die Türkei. Daher kann ich mir nicht vorstellen, daß diese Rolle der Türkei für die EU nicht ausreichend beachtet wird.

Die Entscheidung, die an diesem Freitag fällt, spiegelt nicht nur den Stand der politischen Reformen in der Türkei wider. Nein, diese Entscheidung wird auch Rolle und Identität der EU deutlich machen. Der 17. Dezember entscheidet auch über europäische Kernwerte und das Schicksal der weiteren Zusammenarbeit unserer Nationen.

Die Türkei hat alle Forderungen erfüllt und damit die Grundlage für eine positive Entscheidung geschaffen. Vertreter der EU bezeichnen die Reformen, die wir seit zwei Jahren betreiben, als „stille Revolution“. Es sollte kein Zweifel daran bestehen, daß wir auf diesem Weg nicht stehenbleiben, sondern weiter voranschreiten werden.

Alles, was die Türkei von der EU erwartet, ist Unterstützung bei diesen Reformen. Ich glaube an das Veränderungs- und Entwicklungspotential der Türkei und des türkischen Volkes. Ich habe keinerlei Zweifel daran, daß die Türkei bis zur Mitgliedschaft in der EU sich von der heutigen Türkei unterscheiden und noch fortschrittlicher sein wird.

Ich weiß, daß wir dann die Probleme, bei denen die europäische Öffentlichkeit große Sensibilität zeigt, leichter lösen werden.

Ich habe es schon oft gesagt: Die Türkei wird keine Last für die EU. Sie wird versuchen, die Europäische Union zu bereichern. Wichtig ist nur, daß die Entscheidung am Freitag einen für uns gangbaren Weg aufzeigt. Und es darf nicht der Eindruck entstehen, das Verhältnis zwischen Türkei und EU werde durch kurzsichtige und kleinliche Erwägungen belastet. Ich vertraue auf die Vernunft und Klugheit aller Mitgliedstaaten.

Im Namen meines Volkes und meiner Regierung wünsche ich allen europäischen Nationen eine Welt in Frieden, Wohlstand und Freiheit.

Recep Tayyip Erdogan
Ministerpräsident der Türkei
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